«Toll, heisst es nun auch offiziell: Du bist willkommen!»
Das Traktandum hat Vorrang und wird noch vor der Genehmigung des Protokolls der letzten Aktivensitzung behandelt: die Sitzungssprache. Denn spätestens wenn Gehörlose Aktivmitglieder seien, werde man im Gaskessel in Bern mit der Tatsache einer fehlenden gemeinsamen Sprache konfrontiert. Betroffen seien aber auch Jugendliche, die kein Berndeutsch verstehen. Sollte neben Gebärdensprachverdolmetschung neu Hochdeutsch gesprochen werden oder weiterhin Mundart, und die Berner bieten Flüsterübersetzungen ins Hochdeutsche an?
Cornelia Knuchel und Jonas Jenzer stimmen wie die grosse Mehrheit der rund 50 anwesenden jungen Erwachsenen für den zweiten Vorschlag. Sie sind zwei von sieben Neumitgliedern des Vereins Jugend- und Kulturzentrum Gaskessel Bern und stellen sich an diesem Abend vor – in Gebärdensprache. Eine Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt, ein Liveprotokoll auf Grossleinwand macht das Gesagte für alle in Echtzeit nachlesbar.
Traktandum und Lösungsfindung zeigen, was im Gaskessel innerhalb weniger Monate selbstverständlich geworden ist: die gelebte Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderungen. Das Jugendkulturhaus hat verschiedene inklusive Massnahmen partizipativ erarbeitet und umgesetzt; den Effort würdigte die Stiftung Denk an mich im August 2018 mit einem substanziellen finanziellen Beitrag.
Der Gaskessel feierte die Vergabe des Labels «Kultur inklusiv» Ende September 2018 mit einer inklusiven öffentlichen Kulturnacht, in der gemischte Teams aus Hörenden und Gehörlosen an der Bar bedienten, auf der Bühne rappten und sich Besuchende mit und ohne Behinderungen dem Tanzen hingaben. Bereits im Juli 2018 hatte das Jugendkulturlokal OXIL der Stadt Zofingen seine Auszeichnung mit dem Label «Kultur inklusiv» ebenfalls mit einem grossen partizipativen Fest begangen, auch hier nur einige Monate nachdem das Projekt Inklusion lanciert worden war.
«Betroffene von Anfang an miteinzubeziehen, war entscheidend»
Szenenwechsel ins Zofinger Industriegebiet. Bunt
zusammengewürfelte Klappstühle und Bistrotische, Blumenkübel auf dem Asphalt
und urbane Aussicht auf die Gleise des Bahnhofs nebenan, im Rücken der Altbau
mit dem bröckelnden Verputz des OXIL. Ein Intercity verrauscht kurz den
chilligen Sound aus den Boxen. DJ an diesem Spätsommernachmittag ist erstmals
Robin Zimmermann. Bisher hat der 36-Jährige auf der Discomania aufgelegt, einer
monatlichen Disco-Party für Menschen mit und ohne Behinderungen von Insieme
Aarau-Lenzburg. Die Idee, sich im OXIL zu engagieren und so neue Leute
kennenzulernen, kam ihm nach einem Workshop des Jugendkulturlokals Anfang Mai
2018.
Im Workshop «Kultur inklusiv im OXIL» tauschten sich gut 20 Teilnehmende in Gruppen aus über mögliche Inklusionsmassnahmen in den fünf Handlungsfeldern kulturelles Angebot, inhaltlicher und baulicher Zugang, Arbeitsangebote und Kommunikation. Mitglieder und Leitende des OXIL trafen dabei Betroffene und Mitarbeitende aus Vereinen, Stiftungen und Institutionen für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen: Insieme Aarau-Lenzburg, Pro Infirmis Aargau-Solothurn, HPS Zofingen, Arbeits- und Wohngemeinschaft Borna, PluSport Zofingen und die Stiftungen azb und Nische.
«Das Projekt breit abzustützen und Betroffene von Anfang an miteinzubeziehen, war entscheidend, um den Massnahmenkatalog bedürfnisgerecht zu erarbeiten, und damit alle dahinterstehen», resümiert Leonie Schaffner, die Ende September 2018 ihre dreijährige Praxisausbildung bei der Stadt Zofingen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beendet hat. Der Workshop war Teil ihres Projekts «Kultur inklusiv im Jugendkulturlokal OXIL», das sie im Rahmen ihres Studiums an der Hochschule Luzern realisierte. Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis begleitete das Projekt beratend.
Sich einbringen zu können, das habe er am Workshop geschätzt, sagt Robin Zimmermann. Zum Beispiel mit seinem Vorschlag, die Orientierung vom Bahnhof durch das Industriegebiet bis zum OXIL für jene Besuchenden zu verbessern, die wie er aus einer der umliegenden Gemeinden anreisen. Man habe überlegt, ob sich dafür eine App entwickeln liesse, ergänzt Lisa Florio. «Doch das ist teuer. Wir mussten uns etwas anderes einfallen lassen: dass man ins OXIL anrufen kann und abgeholt wird.» Als weitere Massnahmen wurden ein einfach gestalteter Übersichtsplan und ein Video mit einer gesprochenen Wegbeschreibung auf der Webseite aufgeschaltet.
Seit einem Jahr engagiert sich Lisa Florio intensiv im OXIL, ihrem «zweiten Zuhause». Am Workshop mitgemacht hat die quirlige, so selbstbewusst wirkende 19-Jährige «trotz meiner vielen Ängste». Und wurde von der Offenheit der anderen Teilnehmenden überrascht. Sie fühlte sich wohl in der Gruppe – anders als sonst meistens unter Fremden. Das Label «Kultur inklusiv» für das OXIL bedeute für sie, «dass es jetzt auch offiziell heisst: Du bist willkommen! Das ist toll.» Bei einer skeptischen Kollegin im Rollstuhl hat Lisa Florio bereits erfolgreich Werbung für das inklusive Jugendkulturlokal gemacht.
«Pragmatisch überlegt, was wir zu leisten imstande sind»
Mundpropaganda soll auch das inklusive Angebot und die Willkommenskultur des Gaskessels bei jungen Erwachsenen mit Behinderungen noch bekannter machen. Baulich, mit seinen Stellenangeboten und seiner Haltung sei das Jugendkulturhaus schon lange inklusiv, sagt Teamleiter Francisco Droguett. Im Februar 2017 habe man aber beschlossen, Inklusion professionell anzugehen und sich deshalb die Partnerschaft mit dem Label «Kultur inklusiv» zum Ziel gesetzt.
Während das OXIL zunächst insbesondere Jugendliche mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen ansprechen will, engagiert sich der Gaskessel als erstes für junge Menschen mit Hörbehinderungen und für Gehörlose. «Wir haben pragmatisch überlegt, was wir anfangs umsetzen können, ohne uns zu ‘überlupfen’. Und was zu unserem lauten und hektischen Konzertbetrieb passt», erinnert sich Joëlle Dinichert, Jugendarbeiterin im Gaskessel. Zudem habe es sie gereizt, die Deaf-Slam-Kultur – Poetry Slam in Gebärdensprache – inklusiv zu thematisieren.
Auch im Gaskessel war man sich rasch einig: «Wir brauchen Expertinnen und Experten in eigener Sache.» Diese fand man auf Hinweis der Fachstelle Kultur inklusiv über Jugehörig, einem Verein für junge Schwerhörige und Gehörlose. Über einen Aufruf von Jugehörig auf Facebook erfuhr denn auch Cornelia Knuchel vom Inklusionsprojekt. Mit Jonas Jenzer und sechs weiteren jungen Erwachsenen mit Hörbehinderungen sowie drei Aktivmitgliedern des Gaskessels erarbeitete die 32-Jährige von Januar bis August 2018 das Projekt «Kultur inklusiv im Gaskessel». Wie das OXIL mit den Zielen eines Massnahmenkatalogs in den fünf Handlungsfeldern des Labels und einer Partnerschaft mit der Fachstelle von Pro Infirmis, die auch hier beratend wirkte.
«Wir Gehörlosen machten Lösungsvorschläge»
«In einer Bedarfsanalyse hielt das Team fest, welche inklusiven Zugangshilfen es braucht, und priorisierte diese. Wir Gehörlosen machten Lösungsvorschläge», sagt Cornelia Knuchel. «Zum Beispiel, zusätzlich zu den Getränkekarten interaktive Tablets an der Bar bereitzustellen, die die Namen der Getränke in Gebärdensprache zeigen.» Die Vorschläge kamen bei den Hörenden im Projektteam gut an und wurden teilweise bereits umgesetzt.
«Die Sitzungen waren produktiv, weil die gehörlosen Teilnehmenden uns genau mitteilten, was sie brauchen», ist Anna Egli überzeugt. Die 23-Jährige ist seit vier Jahren Aktivmitglied des Vereins Gaskessel, seit zwei Jahren im Vorstand und verantwortet seit 2018 das Ressort Finanzen. «Der Gaskessel ist ein Lernfeld, in dem man Fehler machen darf.» Lehrreich war für sie an den Sitzungen nicht nur, von den Betroffenen zu erfahren, welche Hürden es für gehörlose Menschen gibt und wie sich diese abbauen lassen, sondern auch, wie Gehörlose leben und zum Beispiel Musik wahrnehmen: Holzboden überträgt die Schwingungen, die tiefen Frequenzen der Bässe sind von Vorteil.
Um Kommunikationshürden abzubauen, besuchten Anna Egli und 13 weitere Aktivmitglieder von April bis Juni 2018 einen Gebärdensprachkurs. «Die Gruppe war engagiert, wir gebärdeten auch ausserhalb des Kurses untereinander.» Und wenn im Gaskessel laute Musik laufe, könne man jetzt das eine oder andere in Gebärdensprache austauschen.
«Gemeinsam am Projekt zu arbeiten, gab mir Sicherheit»
Sich im Workshop des OXIL mit den anderen Teilnehmenden auszutauschen und gemeinsam herauszufinden, was «inklusive Massnahmen» sind, habe ihre Befürchtungen beseitigt, sagt Vera Lang. Davor hatte die 20-Jährige, die seit einem Jahr im OXIL aktiv mitwirkt, Bedenken, ob sie alles richtig machen würde im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen. «Ich wollte mich im Projekt Inklusion engagieren, konnte mir aber wenig darunter vorstellen. Sicherheit gewann ich durch die gemeinsame Arbeit im lockeren Rahmen für die Label-Feier.»
Was aber ist mit den Aktivmitgliedern ohne Behinderungen, die nicht im Projekt Inklusion mitgemacht haben, fragen sich sowohl Vera Lang vom OXIL wie Anna Egli vom Gaskessel. Wie bauen sie ihre Unsicherheiten ab und gehen auf Gleichaltrige mit Behinderungen zu? Beim gemeinsamen Gärtnern im Gaskessel stellte Cornelia Knuchel denn auch fest, dass Jugendliche ohne Behinderungen häufig Hemmungen haben, sich mit ihr auszutauschen.
Mit Insieme Aarau-Lenzburg hat das OXIL deshalb bereits einen ersten Sensibilisierungsinput an einer Sitzung der Aktivmitglieder durchgeführt, weitere sollen auch mit PluSport Zofingen/Arbeits- und Wohngemeinschaft Borna folgen, und der Gaskessel plant zusätzliche Gebärdensprachkurse, wieder von gehörlosen Fachpersonen geleitet. Beide Jugendkulturhäuser haben die Weichen für die nächsten inklusiven Schritte gestellt, zum Beispiel mit einer breiten inklusiven künstlerischen Programmierung von Kulturakteuren mit und ohne Behinderungen für die Saison 2018/19.
Dass nicht alle inklusiven Massnahmen auf einmal umgesetzt werden können, sei klar – und nicht nur nachteilig, sind sich Leonie Schaffner vom OXIL und Francisco Droguett vom Gaskessel einig. Dieser bringt es auf den Punkt: «Der Lernprozess, stets mitzudenken, wo es überall Hürden geben könnte, und andere zu sensibilisieren, tut uns Menschen ohne Behinderungen gut.»