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Kernkompetenz Teilhabe

«…und dann trommelte ich die Leute zusammen für ein Video an Helene Fischer»

Ein Kultur- und Gastrobetrieb mit zwei Musikfestivals und eigenem Theaterensemble, bespielt und betrieben von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen – das leistet der Verein Kollektiv Frei_Raum in der Heiteren Fahne in Wabern bei Bern. Das Interview mit drei langjährigen Beteiligten über grosse Wünsche, kleine Budgets und gemeinsame Entscheidungsfindungen.
Lukas Schwander, Rahel Bucher und Hannes Hergarten sind langjährige Mitglieder des Betreiberkollektivs der Heiteren Fahne.
Lukas Schwander, Rahel Bucher und Hannes Hergarten sind langjährige Mitglieder des Betreiberkollektivs der Heiteren Fahne.
© Paola Pitton

Der blau-weisse Einmaster mit seiner Mannschaft aus Schaufensterpuppen prangt von der Gartenwirtschaft der Heiteren Fahne. Kaum Aufmerksamkeit schenken ihm die drei Dutzend Primarschüler aus den nahen Tagesschulen, die gerade aus der Beiz stürmen: Längst vertraut ist ihnen das optische Wahrzeichen des Kultur- und Gastrobetriebs in Wabern bei Bern, in dem sie dreimal in der Woche essen.  

Am Vormittag hat Lukas Schwander in der Heiteren Fahne Gemüse geschnipselt für den Mittagstisch – eines der sozialen Angebote des Vereins Kollektiv Frei_Raum mit seinen Kernkompetenzen kulturelle Teilhabe und Inklusion. Jetzt holt der 22-jährige Mann mit Downsyndrom Getränke und setzt sich neben Rahel Bucher. Die Dramaturgin und Journalistin gründete den Verein vor zehn Jahren mit; in der Heiteren Fahne trägt die 40-Jährige viele Hüte – wie Lukas Schwander auch. Gemeinsam engagieren sich die beiden unter anderem im Programmierungsteam des Kulturbetriebs.

Lukas Schwander, über welche Veranstaltung, die Sie mitprogrammiert haben, haben Sie sich zuletzt besonders gefreut? 
Lukas Schwander: Über das Konzert von Marc Amacher am Festival Säbeli Bum im August. Marc Amacher war im Finale von The Voice of Germany. Er macht Blues-Musik.  

Rahel Bucher, wie gefiel Ihnen diese Wahl?
Rahel Bucher: Die Musikrichtung entspricht nicht ganz meinem Geschmack, aber ich habe mich sehr darüber gefreut, dass wir endlich einen Vorschlag von Lukas umsetzen konnten – denn Lukas’ Wünsche beginnen bei DJ Bobo und hören bei Helene Fischer auf. Stars dieses Kalibers kriegen wir fast nicht in unseren kleinen Betrieb. Das führt bei Lukas manchmal zu grossen Enttäuschungen, die lange im Alltag nachhallen.

«Ich bin seit fünf Jahren in der Heiteren Fahne, ich denke hier mit.»
Lukas Schwander, Mitglied Betreiberkollektiv Heitere Fahne und Theaterensemble Frei_Raum sowie Teilzeitangestellter Gastrobetrieb

Sein inklusives Engagement startete der Verein Kollektiv Frei_Raum 2009 mit dem Festival Säbeli Bum, drei Jahre später kamen Theaterprojekte mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern dazu. 2013 folgten das Festival Gugus Gurte und der Kultur- und Gastrobetrieb Heitere Fahne – seither die Hauptspielstätte des Theaters Frei_Raum. Neben den rund 30 eigenen kulturellen Produktionen und Formaten kuratiert das Betreiberkollektiv jedes Jahr circa 50 Konzerte, Theatergastspiele und andere Kulturveranstaltungen.  

Lukas Schwander, wer hat Ihnen von der Heiteren Fahne erzählt?
Lukas Schwander: Niemand. Am ersten Festival Säbeli Bum habe ich Rahel Bucher kennengelernt. Ich bin seit fünf Jahren in der Heiteren Fahne, ich denke hier mit.  

Das Kollektiv Frei_Raum bespielt die Heitere Fahne und die beiden Musikfestivals. Wie programmieren 30 Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen?
Rahel Bucher: Steht zum Beispiel das nächste Säbeli Bum an, frage ich in einer Sitzung, wer in der Vorbereitungsgruppe mitmachen möchte. Das wollen meist nicht mehr als vier, fünf Leute, die sich dafür zusammentun. Unsere Programmierung ist durchlässig, bei mir laufen wie bei einer Marionettenspielerin die Fäden zusammen: Jeder kann daran ziehen und seine Wünsche anbringen oder diese auch selber umsetzen. Lukas macht mir viele Vorschläge, gemeinsam überlegen wir, wie wir sie realisieren können und was er dabei selber übernimmt. Zum Beispiel, wie er Stars wie DJ Bobo, Francine Jordi oder Trauffer anfragt.
Lukas Schwander: Ich plane das. Für Helene Fischer habe ich ein paar Leute zusammengetrommelt, wir haben Schilder gemalt und ein Video gemacht, in dem ich tanze und singe. Das habe ich ihr geschickt. Ich schreibe Briefe. Mit meinem Assistenten habe ich Helene Fischer getroffen, ihr vom wunderschönen Saal der Heiteren Fahne erzählt und gemeinsame Fotos gemacht. Leider hat sie bisher nicht zugesagt.

Sein Tanz- und Musikvideo schickte Lukas Schwander der Schlagersängerin Helene Fischer, um sie für einen Auftritt in der Heiteren Fahne zu gewinnen.

Was sind die Herausforderungen bei einer Programmgestaltung, in der alle mitbestimmen dürfen?
Rahel Bucher: Die Balance zu finden zwischen Selbständigkeit ermöglichen und Verselbständigung vermeiden. Ein sehr kontaktfreudiger Mann mit einer kognitiven Beeinträchtigung ruft in seinem Überschwang schon mal Musiker an und schafft es, sie zu buchen – ohne die Gruppe davor zu informieren und zu schauen, ob der Saal frei ist. Dann muss ich etwas bremsen. Meine Aufgabe ist es auch, passende Auftrittsformate zu finden, zum Beispiel für experimentelle Vorschläge. Dafür kommt unser fixer wöchentlicher Abendanlass, der «Steile Freitag», eher nicht in Frage, hier müssen wir genügend Publikum und Einnahmen generieren.  

Wie steht es mit Ihren Ansprüchen – nehmen Sie es einfach hin, wenn das Buchungsteam zum Beispiel fünf Bands hintereinander programmiert, die Ihnen nicht gefallen?
Rahel Bucher: Das kam bisher noch nie vor. Umgekehrt würde ich niemanden buchen, der nur mir gefällt. Eine Ausnahme sind inklusive Ensembles aus Kulturschaffenden mit und ohne Behinderungen, die wir zu Gastauftritten einladen, weil wir ihnen eine Plattform bieten wollen. Ansonsten frage ich mich stets, ob das Haus dahintersteht. Wer mitarbeitet, soll sich identifizieren. Der Funke muss springen. Das ist unser Rezept und unser Erfolg: Die Menschen, die hier grösstenteils freiwillig arbeiten, fühlen sich mit der Heiteren Fahne verbunden, weil sie von Anfang an einbezogen sind. Das gilt auch für die Künstlerinnen und Künstler. Daraus wächst eine besondere Stimmung, die sich auf das Publikum überträgt.

Bei der durchgehend inklusiven Programmierung der Heiteren Fahne: Wofür stehen die vier mit dem Signet «Freaks + Stars» gekennzeichneten Abende pro Saison?
Rahel Bucher: Diese Abende sollen besonders für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen «fäge», weil es für sie wenig Angebote gibt. Mit Insieme Kanton Bern haben wir zum Beispiel das Herzblatt-Café mit anschliessender Herzblatt-Show geschaffen: Auf den Flirtkurs am Nachmittag folgt die Herzblatt-Show, bei der sich die Teilnehmenden kennenlernen. Der Abend ist aus einem Bedürfnis der Gruppe entstanden. Bei der Umsetzung denken und wirken, wie meistens in der Heiteren Fahne, viele mit – Gastro, Technik, Kultur, Grafik –, wir entwickeln die Idee weiter und stemmen den Abend gemeinsam.

Das tönt nach einem grossen Aufwand…
Rahel Bucher: Bei unserer wenig regulierten und nicht hierarchischen Form der Zusammenarbeit ist es besonders herausfordernd, die Zuständigkeiten für die vielen Mitwirkenden klar zu benennen. Weil dies nicht immer gelingt, fühlen sich manche überfordert oder übergangen. Es braucht viel Zeit, Absprache und Kommunikation – einige Missverständnisse gibt es trotzdem, bis so ein Abend draussen ist.

«Mit unserem Angebot Kulturportier können Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen selbstständig in die Heitere Fahne kommen. Allein auszugehen ist für sie ein Erlebnis und für die Behinderteninstitution eine Entlastung.»
Rahel Bucher, Gründerin und Vorstandsmitglied Verein Kollektiv Frei_Raum, Verantwortliche Theater Frei_Raum

Lukas Schwander, Sie sind seit sechs Jahren auch Ensemblemitglied des Theaters Frei_Raum, das jedes Jahr eine Produktion erarbeitet und aufführt. Wieso machen Sie mit?
Lukas Schwander: Ich spiele mit Profischauspielern und Profimusikern. Es gefällt mir sehr gut.  

Wie haben Sie gelernt, auf der Bühne zu sein?
Lukas Schwander: Einfach so, durchs Machen. Und in einem Theaterkurs hier von November bis Februar. Für ein Stück proben wir sechs bis acht Wochen. Das ist viel, eigentlich.     

Sie sind ja auch im Gastrobetrieb der Heiteren Fahne zu 40 Prozent fest angestellt, daneben arbeiten Sie auf einem Reithof.
Rahel Bucher: Das Schöne an der Heiteren Fahne ist, dass wir flexibel sein können: Für die Theaterproben bekommt Lukas bei uns frei von der Arbeit im Restaurant. Wir proben jeden Tag, unsere drei Schauspielenden mit kognitiven Beeinträchtigungen dreimal in der Woche. Für die täglichen Endproben suchen wir mit ihren Arbeitgebern nach individuellen Lösungen: Lukas, Du nimmst dann frei oder Ferien, richtig?
Lukas Schwander: Ja.  

Bestimmen Sie auch den Inhalt der Theaterstücke mit?
Lukas Schwander: Ich bin frei, im Stück Saxofon zu spielen und zu tanzen.
Rahel Bucher: Im Ensemble kennen wir mittlerweile unsere jeweiligen Stärken und wissen, wie wir sie einsetzen können. Für unsere nächste Produktion von 2019 haben wir erstmals partizipativ über den Inhalt entschieden. Wir diskutierten eine Woche lang im Team und einigten uns auf ein Thema.  

Nächstes Jahr will die Heitere Fahne nicht mehr nur punktuell Theaterkurse anbieten, sondern kontinuierlich. Was ist das Ziel?
Rahel Bucher: Zum einen möchten wir Grundkenntnisse vermitteln, für die wir in den Proben keine Zeit haben. Vor allem aber wollen wir das Kreative stärker in unseren Alltagsbetrieb einfliessen lassen. Deshalb wollen wir ab September 2019 zweimal wöchentlich ein Theatertraining anbieten mit Stimmbildung, Tanz, Gesang und allem, was sonst noch dazugehört. Daran teilnehmen können die Mitarbeitenden und Freiwilligen der Heiteren Fahne sowie andere Interessierte – zum Beispiel Menschen aus Behinderteninstitutionen. Im Theatertraining sollen sie an sich und an ihrem Selbstwertgefühl arbeiten und gestärkt daraus hervorgehen. Ich hoffe, dass sich genügend Leute für ein halbes oder ein Jahr verbindlich darauf einlassen. Denn das Wichtigste bei unserer Arbeit – ob Theater- oder Gastrobetrieb – sind die Beziehungen. Sie entstehen durch Vertrauen; dieses aufzubauen braucht Zeit.  

Ein bestehendes Angebot ist der Kulturportier: Eine sensibilisierte Person, meist aus dem Team, empfängt einmal im Monat Besuchende mit kognitiven Beeinträchtigungen und begleitet sie durch den Abend in der Heiteren Fahne. Warum braucht es den Kulturportier?
Rahel Bucher: Weil es die meisten Behinderteninstitutionen Betroffenen oft aus strukturellen Gründen nicht ermöglichen können, abends eine Veranstaltung zu besuchen. Und dann ist es für den Einzelnen eine besondere Erfahrung, allein, ohne betreuende Person, in den Ausgang zu gehen.    

Wird der Kulturportier genutzt?
Rahel Bucher: Ja, aber leider meist nur von den immer gleichen Menschen. Zu uns kommt, wer das Angebot kennt. Neue Besuchende oder Institutionen zu überzeugen, braucht eine enorme Vorlaufzeit. Wir haben deshalb neu einen Flyer mit den inklusiven Veranstaltungen bis Ende 2018 gestaltet und ihn an zahlreiche Behinderteninstitutionen im Kanton Bern verschickt. Für 2019 haben wir zwei Halbjahres-Flyer in Leichter Sprache für die Betroffenen und die Institutionen erarbeitet, die so längerfristig planen können. Denn der Kulturportier entlastet sie. 
Lukas Schwander: Ich werde Institutionen besuchen und vom Kulturportier erzählen.
Rahel Bucher: Es braucht eine persönliche Vermittlung durch einen Kenner, um aufzuzeigen, dass man Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ohne Weiteres allein zu uns kommen lassen kann.  

Lukas Schwander, Sie arbeiten Teilzeit im Restaurant der Heiteren Fahne. Was machen Sie?
Lukas Schwander: Ich arbeite am Dienstag und Donnerstag hier in der Küche, putze und rüste Gemüse, bereite die Rohkostteller vor. Ich arbeite von zehn bis zwölf Uhr, dann essen wir zusammen, danach arbeite ich von zwei bis vier, um halb fünf gibt es einen gemeinsamen Zvieri, um fünf habe ich Feierabend. 

Zum Kern des Theaterensembles Frei_Raum gehören seit Jahren fünf Schauspielerinnen und Schauspieler mit und ohne Beeinträchtigungen.
© zVg. Heitere Fahne
Seit zehn Jahren treten am inklusiven Festival Säbeli Bum Musikerinnen und Musiker mit und ohne Behinderungen auf, wie etwa Spacegroup im August 2017.
© zVg. Heitere Fahne
Die Berner Band Fiji an der sechsten Ausgabe von Gugus Gurte im Juli 2018. Der Eintritt zu allen Gigs am viertägigen Festivals ist kostenlos mit freiwilliger Kollekte.
© Christof Graf
Neben rund 30 eigenen Produktionen programmiert die Heitere Fahne jährlich circa 50 weitere Kulturveranstaltungen wie hier die Plattentaufe von Mich Gerber im Februar 2018.
© Raffaella Bachmann
Plattentaufe von Beat-Man & The New Wave im Mai 2018 am wöchentlichen Abendanlass «Steiler Freitag».
© principe.photo
Am zweijährigen Jubiläum der Heiteren Fahne 2015 geben Clochard Deluxe ihren Ostblock-Polka-Sound zum Besten.
© zVg. Heitere Fahne
An der Kochshow «Okra und Rüebli» wird gemeinsam gekocht und gegessen – und die Köchinnen und Köche mit und ohne Beeinträchtigungen tauschen Geschichten aus.
© zVg. Heitere Fahne
Am inklusiven Generationenmittwoch Heissassa begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderungen jeden Alters.
© zVg. Heitere Fahne

Hannes Hergarten setzt sich dazu. Der Sozialarbeiter hat den Verein Kollektiv Frei_Raum mitgegründet und ist Vorstandsmitglied. Der 38-Jährige ist unter anderem für den inklusiven Gastrobetrieb in der Heiteren Fahne mit seinen rund 30 Mitarbeitenden und rund 100 freiwilligen Helfenden mit und ohne Beeinträchtigungen verantwortlich.  

Hannes Hergarten, wie stellen Sie mit Ihrem Team Tag für Tag sicher, dass die zahlenden Gäste professionell zubereitete Speisen pünktlich auf den Tisch kriegen?
Hannes Hergarten: Die Zusammensetzung unseres Gastroteams ändert sich täglich, weil viele Freiwillige unregelmässig mitarbeiten. Ein Viertel des Teams besteht zudem aus Menschen, die jederzeit ausfallen könnten, weil es ihnen nicht gut geht. Dann springen andere ein. Wer hier was macht, ergibt sich aus der Teamkonstellation am spezifischen Tag und der Tagesform der Anwesenden. Lukas’ Salatteller sind sein Projekt, das heisst aber nicht, dass Du, Lukas, das alleine machen musst.  

Was, wenn Sie einmal keine Lust haben, Gemüse zu rüsten, Lukas Schwander?
Lukas Schwander: Ich rüste gerne.
Hannes Hergarten: Mit Lukas ist es einfach, zusammenzuarbeiten. Unsere Haltung ist, dass jeder Mensch bei uns anpacken kann, und dass die Arbeit Spass machen soll. Die Sichtweise auf Tätigkeiten, die komplex oder unpassend erscheinen, versuchen wir zu ändern, indem wir aufzeigen, wie sie machbar und warum sie wichtig sind. Gleichzeitig pflegen wir freundschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe, die einen dazu bringen, zu sagen: Wenn Du diese Arbeit nicht machst, erledige ich sie, und morgen schauen wir weiter. So holen wir viele Menschen ab. Wer was zu tun hat, ist nicht starr definiert. Es sind Hände da und Herausforderungen, die wir gemeinsam angehen. Das ist unser Verständnis von Arbeit.  

Das setzt voraus, dass die Mitarbeitenden dieses Verständnis von Arbeit teilen.
Hannes Hergarten: Es setzt voraus, dass man diese Art zu wirken, begrüsst: zusammen anpacken und offen sein für Unerwartetes. Da die meisten freiwillig hier sind, gibt es keine Experten, egal ob ein Galaessen oder ein Kindergeburtstag ansteht: Wir schaffen es zusammen.

Mit dem Verein Volkshochschule plus bietet die Heitere Fahne Weiterbildungen in der Restauration an für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Mit welchem Ziel?
Hannes Hergarten: Der jährlich stattfindende Kurs ist eine logische Weiterentwicklung der Ferienlager, die wir mit Insieme während zehn Jahren durchgeführt haben. Das niederschwellige Format ist ideal, damit Menschen in Begleitsituationen unser Haus kennenlernen. Viele, die den einwöchigen Kurs besuchen, kommen danach als freiwillige Helfer zu uns. Er ist ein Türöffner, schafft Vertrauen auf allen Seiten. Die Kurse führen wir zudem in einer privilegierten Situation durch, weil uns die Volkshochschule plus dafür bezahlt.  

Wohingegen mehr als 80 Prozent der Arbeit in der Heiteren Fahne ehrenamtlich geleistet werden.
Rahel Bucher: Auch wir Festangestellten arbeiten mehr als die Hälfte unserer Zeit als Freiwillige. Das ist unser aller Commitment für das Haus.

«Ein Viertel unseres Gastroteams besteht aus Menschen, die jederzeit ausfallen könnten, weil es ihnen nicht gut geht. Dann springen andere für sie ein.»
Hannes Hergarten, Gründer und Vorstandsmitglied Verein Kollektiv Frei_Raum, Verantwortlicher Gastrobetrieb

Gibt es genug Leute, die dazu bereit sind?
Hannes Hergarten: Ja. Zurzeit haben wir das Problem, dass wir das inklusive Team aus 23 Personen kaum «durchfüttern» können – obwohl sich die Löhne um die 1’500 Franken pro Monat bewegen. Und für 2019 möchten wir noch mehr: Lukas soll nicht länger der einzige Küchenchef sein, wir möchten zwei, drei weitere fixe inklusive Arbeitsplätze für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen schaffen. Dafür wünschen wir uns, Partnerschaften mit Behinderteninstitutionen einzugehen. Feste Teilzeitstellen möchten wir auch für andere schaffen, zum Beispiel für Menschen mit Asylstatus, bei denen noch nicht klar ist, wie belastbar sie sind. Jene, die bereits als Freiwillige mithelfen, sagen, dass sie hier ihre traumatischen Erlebnisse kurz vergessen können. Unser Projekt schliesst eine Lücke im Schweizer Arbeitssystem. Auch weil für jeden Menschen eine individuelle Lösung gesucht wird.

Was hat sich in diesen zehn partizipativen, inklusiven Jahren des Kollektivs Frei_Raum verändert?
Hannes Hergarten: Gerechtigkeit ist neu ein Thema bei uns. Wir unterscheiden bei den Löhnen nicht zwischen dem jungen Praktikanten und jemandem wie Rahel, die zwei Studienabschlüsse hat und 20 Jahre älter ist…
Rahel Bucher: …das ist selbstgewählt, geht aber dann nicht mehr auf, wenn sich die Lebenssituation ändert und zum Beispiel Kinder da sind. Gesellschaftlich hat sich in den letzten Jahren beim Thema Inklusion viel verändert, es gibt eine Öffentlichkeit dafür. Noch bewegt sich diese aber auf einer Metaebene, und es gelingt nicht vielen Institutionen, das Konzept Inklusion in die Praxis umzusetzen und zu leben. Eine Änderung in unserem Kollektiv ist die Ausweitung unseres Fokus. Lag er anfangs auf Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, sind heute auch Menschen mit IV-Rente dabei, junge Erwachsene, die nicht wissen, wohin, Asylsuchende. Die Vielfalt wächst, das ist reizvoll und anspruchsvoll – und der Weg, den wir gehen müssen.  

Was wünschen Sie sich für die Heitere Fahne in den nächsten Jahren, Lukas Schwander?
Lukas Schwander: Ich habe Wünsche, aber diese sind etwas gross.
Hannes Hergarten: Du denkst an die Stars, die Du gerne hierher holen möchtest. Das kriegen wir hin, nicht aufgeben. Das Haus hat auch grosse Wünsche, zum Beispiel einen ausfinanzierten Grundbetrieb.
Rahel Bucher: Stimmt, das passt zusammen.

Heitere Fahne und Kollektiv Frei_Raum

Der Verein Kollektiv Frei_Raum betreibt seit November 2013 das Kultur- und Gastronomiezentrum Heitere Fahne in Wabern bei Bern. Das Kollektiv veranstaltet seit 2009 jedes Jahr das inklusive Festival Säbeli Bum und seit 2012 inklusive Theaterprojekte mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und professionellen Theaterschaffenden. Die Produktionen des Theaters Frei_Raum werden seit der Spielzeit 2013/14 in der Heiteren Fahne erarbeitet und uraufgeführt, das Ensemble tourt in der ganzen Schweiz. Das Betreiberkollektiv aus 30 Personen mit und ohne Beeinträchtigungen kuratiert in der Heiteren Fahne rund 80 Kulturveranstaltungen jährlich. Zu den besonderen inklusiven Angeboten gehören der Kulturportier und das Programmfenster «Freaks + Stars» für und von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Der Mittagstisch für Tagesschulen und der Generationenmittwoch spiegeln das soziale Engagement wider, das festangestellte Mitarbeitende wie Helfende grösstenteils freiwillig erbringen. Das Kollektiv Frei_Raum und die Heitere Fahne sind seit Januar 2016 Träger des Labels «Kultur inklusiv» von Pro Infirmis.
Paola Pitton
Dezember 2018

Kollektiv Frei_Raum & Heitere Fahne

Bern

Heitere Fahne

Wabern bei Bern