Schulung Audiodeskription im Musiktheater

Steile Lernkurve

Deutschschweizer Theater möchten mehr live audiodeskribierte Opern- und andere Musiktheater-Vorstellungen anbieten. Das Geschehen auf der Bühne wird dabei so beschrieben, dass es sich für blinde und sehbehinderte Menschen in ein Hörerlebnis verwandelt. Anders als in der Romandie fehlt hier jedoch das Know-how weitgehend. Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis organisierte deshalb im Juni 2019 die erste Schulung für ausgewählte Teilnehmende, mit einer namhaften Expertin und dem Ziel einer nachhaltigen Professionalisierung.

Wie beschreibt man das Bühnenbild einer Operninszenierung für sehbehinderte Besucherinnen und Besucher präzise und knapp? Teilnehmende an der Schulung der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis im Juni 2019. © Paola Pitton

Musikgespür, Sprachgefühl, Teamfähigkeit

Mit diesem Anforderungskatalog arbeitet Anke Nicolai. Die Berliner Autorin, Tonregisseurin und Dozentin erstellt seit 2006 Live-Audiodeskriptionen für Opern-, Operetten- und Musical-Vorstellungen und spricht diese selber ein. An Seminaren vermittelt sie ihr Fachwissen. Zu ihren zahlreichen Kunden aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zählen etwa die Oper Frankfurt, die Oper Graz und das Deutsche Nationaltheater Weimar.

Zu den spezifischen Fähigkeiten einer Verfasserin oder eines Verfassers von Audiodeskriptions-Skripts gehört für Anke Nicolai ein sicheres Gespür für Musik; zudem sollte man mit Sprache jonglieren und sich auf die wesentlichen Informationen fokussieren können. Und gerne im Team arbeiten. Denn ob eine Beschreibung verständlich und aussagekräftig ist oder zu viele Informationen enthält: Beurteilen kann dies nur eine sehbehinderte oder blinde Referenzperson, die das Skript abnimmt oder, noch besser, dieses im Tandem mit einer sehenden Person erstellt.

Solche Fachpersonen sind in der Deutschschweiz rar. So zeichnete Anke Nicolai verantwortlich für die Live-Audiodeskription an der Freiluftveranstaltung von «Das Land des Lächelns» des Opernhauses Zürich auf dem Sechseläutenplatz in der Saison 2017/18.

Wie das Opernhaus Zürich machen derzeit auch andere Deutschschweizer Spielstätten erste Erfahrungen mit Live-Audiodeskription: Das Theater Orchester Biel Solothurn führt 2019/2020 die dritte Saison in Folge eine live audiodeskribierte Oper im Programm, auf Deutsch in Solothurn und in der französischen Übersetzung in Biel. Am Theater Basel werden in der Saison 2019/20 drei Vorstellungen von «La Bohème» live audiodeskribiert. Weitere Deutschschweizer Häuser sind interessiert.

An der rechten Seitenwand an der Vorderkante, stirnseitig

Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis organisierte im Juni 2019 deshalb ein fünftägiges Schulungsseminar mit Anke Nicolai. Das auf zehn Teilnehmende beschränkte Seminar richtete sich an Interessierte, die bereits Erfahrung mit Audiodeskription in anderen Bereichen oder eine entsprechende Ausbildung absolviert haben.

An der Schulung, die in den Räumlichkeiten des Schweizerischen Blindenverbands in Zürich stattfand, konnten wechselnde gemischte Teams zusammen arbeiten, nahmen doch auch zwei sehbehinderte Experten daran teil.

Einer davon ist Michael Vogt. Seit drei Jahren produziert er Audiodeskriptionen – unter anderem für Schweizer Radio und Fernsehen SRF – im Auftrag von Hörfilm Schweiz. Dieser Verein realisiert Audiodeskriptionen für Film, Theater und Ausstellungen und vermietet das technische Zubehör. Bei Hörfilm Schweiz wurde Michael Vogt zum Audiodeskriptions-Autoren ausgebildet. Für das Theater Orchester Biel Solothurn verfasste der fast blinde Autor im Tandem das Skript für die Live-Audiodeskription der Oper «Dido and Aeneas» in der Saison 2018/19. 

Am zweiten Schulungstag hört Michael Vogt aufmerksam zu, während die anderen aus seiner Gruppe ihre Köpfe vor dem Computerbildschirm zusammenstecken und um eine prägnante Beschreibung des Bühnenbilds einer Inszenierung von «Così fan tutte» ringen.

Die Rede ist von einem «Kubus, der frontal auf uns herankommt» und von «der rechten Seitenwand an der Vorderkante, an der die Hängematte angemacht ist, stirnseitig». «Ich versuche zu verstehen», fasst Michael Vogt das Gesagte dann jeweils zusammen oder fragt präzisierend nach. «Wir reden uns um Kopf und Kragen», stellt eine Seminarteilnehmerin mit einem Schmunzeln fest.

Horizonterweiternder, inspirierender Austausch

Wie lassen sich die Aufteilungen der Solistinnen und Solisten in den verschiedenen Szenen in Worte fassen? Wie die Übertitel und deren Übersetzung bei einer fremdsprachigen Oper harmonisch in die Beschreibung einbetten? Und wie sind Ensemble- und Solo-Tanz in einem Musical zu beschreiben und gewichten? Mit diesen Herausforderungen konfrontierte Anke Nicolai die Teilnehmenden anhand von Beispielen aus ihrem Fundus an Audiodeskriptionen.

Die Teilnehmenden erhielten einen vertieften Eindruck davon, was es heisst, die Musik berücksichtigen zu müssen, in welcher Dominanz sie vorhanden ist und wie wenig Raum sie für anderes lässt: Den Text zu komprimieren oder wegzulassen, ist im Musiktheater zentral.

Die Ergebnisse im Plenum zu präsentierten, sie auch mit Anke Nicolais Version zu vergleichen und ausgiebig zu diskutieren: Dieser Austausch wurde in allen anonym verfassten Rückmeldungen zur Schulung positiv hervorgehoben («in höchstem Masse horizonterweiternd»). Für Michael Vogt ermöglichten diese vertieften Auswertungen eine steile Lernkurve innerhalb der fünf Tage.

Sich von den Textvorschlägen inhaltlich und stilistisch inspirieren zu lassen, schätzte auch die Autorin, Musikerin und ehemalige Radiomoderatorin bei SRF Suzanne Zahnd. Mit ihrer équipe chuchote produziert und spricht sie seit rund zehn Jahren Live-Audiodeskriptionen, zum Beispiel für das Zürcher Theater Spektakel oder das Berner Theaterfestival auawirleben.

Zwar gelten im Sprechtheater andere Gesetzmässigkeiten als im Musiktheater, dennoch habe sie an der Schulung ihre Befürchtung abgelegt, zu viel Informationen unterzubringen und zu viel zu sprechen, bilanziert Suzanne Zahnd. Seither texte sie dichter, was vielleicht der eine oder die andere nicht goutiere – es allen recht zu machen, sei aber schlicht nicht möglich.

Die Qualität und ihr Preis

Dass unterschiedliche textliche Lösungen möglich sind, heisse nicht, dass es keine Standards gebe, betont Anke Nicolai: Dazu gehöre im Musiktheater nicht nur, dass man das Werk von A bis Z kenne. Man müsse es auch live erleben, um einen musikalischen Eindruck zu erhalten und etwa die zu lauten Orchesterstellen wahrzunehmen. 

Richtlinien braucht es für Michael Vogt dringend, um die Qualität von Audiodeskriptionen zu verbessern. «In 80 Prozent der Fälle habe ich als Zuhörer nach fünf Minuten genug», lautet seine ernüchternde Bilanz. Das sei dann der Fall, wenn ein Sehender die Audiodeskription allein erstelle. Damit lasse sich günstiger produzieren, aber man nehme in Kauf, dass das Gesprochene für eine sehbehinderte Person keinen Sinn ergebe, moniert er. Und lese eine ungeschulte Sprecherin die Live-Audiodeskription, spare man wiederum auf Kosten der Betroffenen. 

Auch deshalb habe er an der Schulung teilgenommen, sagt Michael Vogt: Um sich einzubringen und die Live-Audiodeskription gemeinsam mit Gleichgesinnten weiterzubringen.

Unabdingbar ist für Suzanne Zahnd, dass Sehende nur gemeinsam mit einer sehbehinderten oder blinden Person zu audiodeskribieren lernen. Sie plädiert für ein «gesundes Mass» an Richtlinien: Diese sollten nicht verhindern, dass sich Audiodeskription verbreitet. Für Menschen mit einer Sehbehinderung müsse es alltäglich werden, ins Kino oder ins Theater zu gehen, weil es die entsprechenden Angebote gibt.

Vorbild Romandie

Tatsächlich ist Live-Audiodeskription in Opern- und Theaterproduktionen in der Deutschschweiz noch wenig verbreitet verglichen mit den Angeboten in der Romandie. Grund dafür sind unter anderem die unterschiedlichen Produktionsvoraussetzungen: Musik- und Sprechtheater-Produktionen werden in der Westschweiz als Gastspiele an unterschiedlichen Spielstätten gezeigt. Die Audiodeskriptionen sind somit mehrfach einsetzbar, was die Durchführungskosten senkt.

Dagegen inszeniert in der Deutschschweiz jedes Stadttheater mit seinem Ensemble eigene Produktionen, die in der Regel nur am jeweiligen Ort zu sehen sind. Ungleich höher sind hier Aufwand und Kosten. Das bekommen Hörspiel Schweiz und die équipe chuchote zu spüren. «Wir kriegen viele Anfragen von Theatern, die sich für Audiodeskription interessieren. Und die sich zurückziehen, sobald sie den Preis hören», sagt Suzanne Zahnd.

Michael Vogt findet es wichtig, dass die Technik und die Tools für professionelle Audiodeskription-Produktionen weiter entwickelt werden, um den Produktionsprozess und die Qualität von Live-Audiodeskriptionen zu verbessern. Er gibt zu bedenken, dass Audiodeskription auch Sehenden zugutekomme, beispielsweise all jenen, welche Übertitel nicht rasch genug lesen können.

Aber nicht nur. Er erzählt von der Rückmeldung eines sehendes Mannes, der Dank eines Berichts über Vogts Audiodeskriptions-Arbeit den Zugang zur elitären Sparte Oper gefunden habe: Über die gesprochenen Beschreibungen sei diese für ihn nah- und begreifbar geworden. Dass man ein breites Publikum mit professioneller Audiodeskription ansprechen könne, gelte es möglichen Finanzierungspartnern und Förderern zu vermitteln, bekräftigt Michael Vogt.

Zur Professionalisierung von Audiodeskription im Musik- und Sprechtheater-Bereich haben in der Westschweiz die Vereine «Ecoute Voir» und «Regards neufs» in den letzten Jahren beigetragen. Sie bauten audiodeskribierte Angebote auf und tauschen ihr Wissen untereinander aus. Dieser Know-how-Transfer fehlt in den Spielstätten der Deutschschweiz, jedes Opern- und Theaterhaus ist für die Erarbeitung der Audiodeskription auf sich allein gestellt.

Die Schulung der Fachstelle Kultur inklusiv war deshalb auch erst ein Auftakt. Die Teilnehmenden bezahlten nur einen symbolischen Betrag; die Schulungskosten übernahmen der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband, der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen und der Schweizerische Blindenbund.

Im Gegenzug haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verpflichtet, in den nächsten Jahren am Angebot von qualitativ hochstehenden Audiodeskriptionen mitzuwirken, sei es durch die eigene Umsetzung oder durch die Mitarbeit in einer entsprechenden Arbeitsgruppe – und so zur Professionalisierung beizutragen.

Paola Pitton
September 2019

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