Professionalisierungsmöglichkeiten

«Tanztalente mit Behinderungen brauchen eigene Rollenmodelle»

Talentierten Tänzerinnen und Performern mit Behinderungen stehen in der Schweiz keine entsprechenden Ausbildungen offen. Nun zeigen sich erste Bestrebungen, dies zu ändern. Auch dank zwei Pionieren aus der Deutschschweiz und dem Tessin. BewegGrund aus Bern und Teatro Danzabile aus Lugano erarbeiten seit Jahren Alternativen: mit professionellen Rahmenbedingungen und inklusiven Compagnien. 

La danzatrice Joëlle Petrini (a sinistra, durante il workshop di lancio) lavora per la seconda volta con danzatori e danzatrici con disabilità e studentesse e studenti della ZHdK a un pezzo che verrà presentato in tutta la Svizzera nel quadro di IntegrART 2019. ©Paola Pitton

Joëlle Petrini war 31, als sich ihr eine neue Welt eröffnete. Das war im Frühjahr 2017. Damals gehörte die Tessinerin bereits seit mehreren Jahren zur inklusiven Compagnie von Teatro Danzabile in Lugano, sie besuchte das wöchentliche Training, erarbeitete drei professionelle Tanzproduktionen mit und führte sie vor Publikum auf. «Tanzen»: Auf diese Idee hatte sie ihre Ausbildnerin in der geschützten Arbeitsstelle gebracht. Sich in der angeleiteten Tanzimprovisation bei Teatro Danzabile mit anderen jungen Erwachsenen mit und ohne Behinderungen darauf zu fokussieren, was sie mit den Möglichkeiten ihres Körpers künstlerisch auszudrücken vermag, gefiel Joëlle Petrini von Anbeginn.  

An diesem Sonntagnachmittag im Februar 2019 stechen Joëlle Petrinis blaue und rote Haarsträhnen aus dem Menschenknäuel heraus, den die 20 Workshop-Teilnehmenden bilden. Im zweitägigen Kick-off-Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) möchte Workshop-Leiter Emanuel Rosenberg ein Dutzend Performerinnen und Performer mit und ohne Beeinträchtigungen auswählen. Danach sollen sie unter seiner Leitung an der ZHdK in einem zweiwöchigen Bühnenlabor eine Choreografie erarbeiten, der Titel: «Unvorhersehbare Fähigkeiten».

Die Hälfte der Workshop-Teilnehmenden sind Studierende des Bachelor-Studiengangs Contemporary Dance der ZHdK; sie sind freiwillig dabei. Der Choreograf Emanuel Rosenberg, der seit zehn Jahren das Teatro Danzabile und das inklusive biennale ORME Festival in Lugano künstlerisch leitet, hat neben Joëlle Petrini drei weitere Mitglieder seiner Compagnie mit nach Zürich genommen. Die übrigen Teilnehmenden mit Behinderungen lud er über sein Netzwerk zum Workshop ein.  

Hemmungen überwinden über das gemeinsame tänzerische Schaffen

Zwei gemischte Bühnenlabors mit Tanzschaffenden mit und ohne Beeinträchtigungen fanden bereits 2017 statt, wiederum mit Bachelor-Studierenden der ZHdK in Zürich und mit Studierenden des Masterlehrgangs Bewegungstheater an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio. Die Accademia ist Teil der Scuola universitaria professionale della Svizzera Italiana (SUPSI) – des Tessiner Pendants der ZHdK.

«Bis ich meine Hemmungen überwinden, Vertrauen fassen und mich gehen lassen konnte, waren viel Zeit und Arbeit nötig.»

Joëlle Petrini, Tänzerin bei Teatro Danzabile, Lugano​

Und im Bühnenlabor in Verscio 2017 eröffnete sich für Joëlle Petrini eine neue Welt – als sie sich darauf einliess: auf das gemeinsame Tanzen mit männlichen Partnern ohne Behinderungen. «Bis ich meine Hemmungen überwinden, Vertrauen fassen und mich gehen lassen konnte, waren viel Zeit und Arbeit nötig», erinnert sich Joëlle Petrini. Doch danach vermochte sie dem, was in ihr steckte, einen neuen künstlerischen Ausdruck zu verleihen: «meiner Trauer, Wut, Liebe».

Das habe sie nachhaltig geprägt und wirke bis heute nach, in einem grösseren tänzerischen Vokabular, aber auch in ihrem Alltag, ihrem Frau- und Menschsein. An diesem sonntäglichen Workshop an der ZHdK hofft sie, auch für das diesjährige Bühnenlabor ausgewählt zu werden.

«Was jemand als Behinderung definiert, ist nur eine mögliche Betrachtungsweise, die für andere wiederum irrelevant sein kann.»

Emanuel Rosenberg, Künstlerischer Leiter Teatro Danzabile und ORME Festival, Lugano​

Hemmungen. Diese ortet Emanuel Rosenberg mindestens ebenso sehr bei Menschen ohne Behinderungen. «Was aber bedeutet: Behinderung?», fragt er. Je näher man einen Menschen betrachte, umso eher finde man bei jedem irgendeine Form von Einschränkung. «Was jemand als Behinderung definiert, ist nur eine mögliche Betrachtungsweise, die für andere wiederum irrelevant sein kann.»

Kunst könne Begriffe und Kategorien aufheben, ist er überzeugt. Beim gemeinsamen Tun werde das Fremde überwunden, verschwänden Schubladisierungen. Daran arbeite er viel in gemischten Gruppen mit Performerinnen und Performern mit und ohne Behinderungen. Damit sich die Körper kennenlernen. «Jeder Körper ist verschieden. Realisiert man diese Diversität, verschwinden die Hemmungen.»

Gegenentwürfe zum superfitten, perfekten Körper

In der Sensibilisierung und im Abbau von Berührungsängsten auf Seiten der Studierenden sieht Susanne Schneider denn auch eine Hauptaufgabe der Bühnenlabors. Beim ersten Labor 2017 war die Choreografin an der ZHdK als Coachin tätig, Tänzerinnen und Tänzer mit Behinderungen ihrer gemischten Compagnie BewegGrund nahmen daran teil. Die Mitbegründerin des inklusiven Vereins BewegGrund und künstlerische Leiterin des gleichnamigen Festivals in Bern ist eine Pionierin des inklusiven Tanzes.

In den sehr ehrgeizigen und kompetitiv ausgerichteten Tanzausbildungen gehe es um superfitte und perfekte Körper. «Was bei uns in den Proben Alltag ist – die Konfrontation mit Menschen, die diesem ‚Ideal‘ nicht entsprechen – war in den Bühnenlabors für viele Studierende ein einschneidendes Erlebnis. Das zeigten Befragungen», erklärt Susanne Schneider. Werden diese Studierenden dereinst in Tanzprojekten mit Performerinnen und Performern mit Beeinträchtigungen zusammenarbeiten, werden sie weniger überfordert und offener sein.

Wegweisende Pioniere der professionellen Arbeit mit Tanzschaffenden mit und ohne Behinderungen

Wie Inklusion im professionellen Tanzschaffen aussieht, leben die Compagnien BewegGrund und Teatro Danzabile seit Jahren vor. Als sie 1998 mit BewegGrund anfing, habe es in der Schweiz noch kein Tanzangebot für Menschen mit Beeinträchtigungen gegeben, erinnert sich Susanne Schneider. «Meine etwas naive Vorstellung, rasch Tanzschaffende mit Behinderungen zu finden und eine gemischte Compagnie zu gründen, erwies sich als falsch.»

Stattdessen leistete der Verein BewegGrund Arbeit an der Basis, organisierte inklusive Tanzkurse und führte Jugend- und Community-Dance-Projekte durch, bei denen alle mitmachen konnten. «Nach einigen Jahren wollten wir professionelle Stücke erarbeiten und eine Auswahl treffen können.» Letzteres findet bei BewegGrund bis heute nicht wie üblich in Form von Auditionen statt. «Die stressige Situation eines Vortanzens passt nicht zu unserer Arbeitsweise», erklärt Susanne Schneider.

In den Anfängen von BewegGrund fanden sich die Tanzschaffenden für eine Produktion vielfach über persönliche Kontakte oder Workshops. Eine davon ist Esther Kunz. Gleich bei ihrem ersten Workshop wurde sie von Workshop-Leiter Massimo Furlan entdeckt. Für sein neues Tanzstück suchte der Choreograf Performerinnen mit starker Präsenz, unabhängig von der tänzerischen Technik. «10xThe Eternal» schuf er mit sechs Tanzschaffenden mit und ohne Behinderungen von BewegGrund und seiner Cie Numero23Prod. Nach der Premiere im Dezember 2012 in der Berner Dampfzentrale gastierte die Produktion in den folgenden drei Jahren in sechs weiteren Städten in der Schweiz und in Deutschland.

Dieser erste intensive Probeprozess habe ihr zugesagt, bestätigt Esther Kunz. Dann lacht sie laut heraus und ergänzt: «Ich bin sehr pingelig, was Pünktlichkeit und Arbeitszeiten angeht. Und ich kannte die Arbeitsweise im Tanz nicht.» Punkt 16 Uhr habe Esther anfangs die Trainingshose gegen ihre Strassenkleidung getauscht, erinnert sich Susanne Schneider schmunzelnd. «Das ist jetzt anders, ich habe gelernt, flexibler zu sein. Nicht nur im Tanz», präzisiert Esther Kunz. 

Seit ihrer ersten Erfahrung als Tänzerin trainiert sie regelmässig Modern Dance und Improvisation, hat auch Ballettlektionen besucht. «Ballett ist für mich anspruchsvoll, weil es eine Muskelkraft erfordert, die ich nicht habe.» Welcher Bewegungsstil und welches Kursangebot ihr entsprechen, fand sie mit Unterstützung von Susanne Schneider heraus.

Stilistische Vielfalt für ein grösseres Bewegungsrepertoire und neue Sehgewohnheiten

Esther Kunz besucht auch die Workshops mit Dozierenden mit und ohne Behinderungen, die BewegGrund an vier bis fünf Wochenenden jährlich anbietet. Sie ersetzen die 14-tägig durchgeführten Trainings, die der Verein in den ersten vier Jahren organisierte – bis die Luft draussen war. «Wir merkten, dass wir keinen einheitlichen BewegGrund-Tanzstil schaffen wollten», erinnert sich Susanne Schneider. «Wir verstehen uns als Brückenbauer und engagieren uns für Vielfalt, denn für Interessierte mit Beeinträchtigungen ist das Kursangebot klein.»

BewegGrund vermittelt bei der Suche nach passenden Kursen und arbeitet mit anderen inklusiven Kulturinstitutionen zusammen sowie mit zwei Tanzschulen in Bern, die nicht nur baulich barrierefrei sind, sondern auch offen für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und beispielsweise Übungen so anpassen, dass eine Tänzerin im Rollstuhl mitmachen kann.

«Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, anders zu sein. Es ist, wie es ist: jeder verschieden, aber alle im gleichen Team.»

Esther Kunz, Tänzerin in der Compagnie BewegGrund, Bern​

Einer der Gründe, weshalb BewegGrund – anders als Teatro Danzabile – die Compagnie für jede Produktion neu zusammensetzt, ist wiederum der Wunsch nach stilistischer Breite. «Wir arbeiten mit verschiedenen Choreografinnen und Choreografen, mit anderen inklusiven Compagnien und Tanzschaffenden aus dem In- und Ausland zusammen, weil wir uns als Pioniere sehen und wie bei den Kursen nicht nur eine Handschrift zeigen möchten», begründet Susanne Schneider. 

Abgesehen von diesem Grundsatzentscheid zwingt das fehlende Budget die Compagnie, projektbezogen zu arbeiten. Wie die meisten Ensembles aus der freien Szene verfügen weder BewegGrund noch Teatro Danzabile über eine ausreichende Basisfinanzierung von der öffentlichen Hand, um ihre Compagnien kontinuierlich am Laufen zu halten. Um seine Produktionen finanzieren zu können, hat Teatro Danzabile vor zwei Jahren die eigenen regelmässigen Trainingsangebote abgeschafft und setzt ebenfalls auf Workshops mit verschiedenen Dozierenden.

Statt Ausbildung: Learning by Doing in professionellen Produktionsprozessen

Ohne regelmässiges Training und ohne professionelle Ausbildung ist der Erarbeitungsprozess einer neuen Produktion für Performerinnen und Performer mit Behinderungen ein entscheidendes Lernfeld. «Wir arbeiten in der kollektiven Kreation. Ich leite nicht an und gebe keine Anweisungen, niemand führt einfach aus», beschreibt Emanuel Rosenberg seine Arbeitsweise. «Auf diesen Prozess müssen sich die Profitänzer ohne Behinderungen ebenso einlassen und ehrlich zu sich sein wie die Tänzerinnen mit Beeinträchtigungen. Die Erarbeitung eines neuen Stücks involviert immer auch emotional stark.»

Mit professionellen Tanzschaffenden ohne Beeinträchtigungen auf eine Aufführung hin zu arbeiten: Esther Kunz kennt es nicht anders. «Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, anders zu sein. Es ist, wie es ist: jeder verschieden, aber alle im gleichen Team.» Weil sie schon an mehreren Produktionen mitwirkte, wisse sie jetzt besser, was sie braucht, und was nicht geht. Entscheidend sei: Vertrauen zu haben in die Menschen, mit denen sie tanze. «Ich musste über mehrere Stücke hindurch lernen, Sicherheit abzugeben.»

Zum Beispiel, wenn sie sich fallen lassen sollte und darauf vertrauen musste, dass sie aufgefangen wird. Für Esther Kunz eine fast unüberwindbare Herausforderung. «Ich habe Gleichgewichtsprobleme. Auch deshalb ist es mir wichtig, mich immer unter Kontrolle zu haben.» 

Bloss gibt es bei der Erarbeitung einer jeden Tanzproduktion immer Momente, in denen Unerwartetes geschieht und die Kontrolle abhandenkommt. Wie damit umgehen, wenn etwas nicht so klappt, wie man es sich vorstellt, und dennoch Vertrauen haben, dass es gut wird – das seien wiederkehrende Themen, sagt Susanne Schneider. Für erfahrene Profis ohne Behinderungen sei es einfacher, damit umzugehen.

Produktionsbedingungen wie bei anderen Compagnien aus der freien Szene

Abgesehen davon unterscheiden sich die Produktionsbedingungen bei BewegGrund wenig von anderen, nicht gemischten Ensembles aus der freien Szene, betont die Choreografin. «Wir brauchen nicht mehr Zeit als andere Compagnien, nur verteilen wir die Proben auf mehrere Wochen, statt am Stück zu arbeiten.» Das ist weniger belastend. «Und wir proben sechs statt acht Stunden», ergänzt Esther Kunz. «Das reicht». Sie erzählt, wie sie an einem inklusiven Tanzkurs in Schweden mit acht Stunden Training täglich körperlich an ihre Grenzen kam.

«In erster Linie sind wir eine Compagnie aus der freien Szene wie andere auch.»

Susanne Schneider, Co-Gründerin Compagnie BewegGrund und BewegGrund. Das Festival, Bern​

Bei Gesuchen für Produktionsgelder gibt Susanne Schneider notwendige Assistenzpersonen als zusätzlichen Kostenfaktor an, je nach Zusammensetzung der Compagnie oder etwa, wenn eine Tournee geplant ist. «Aber wir sind in erster Linie einfach eine Compagnie aus der freien Szene wie andere auch», bekräftigt sie. Eine Compagnie, die sorgfältiger als andere plant und sich mehr Gedanken macht, zum Beispiel darüber, wo es Hindernisse für einen blinden Tänzer geben könnte. «Doch dafür brauchen wir nicht viel mehr Zeit, weil wir bei BewegGrund mittlerweile sehr gut eingespielt sind.»

Für seine neue Produktion wird Teatro Danzabile für einmal am Stück proben, den ganzen September 2019, obwohl seine Tanzschaffenden mit Behinderungen alle einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Möglich macht es die Unterstützung der Angehörigen. Und das Entgegenkommen von verständnisvollen Arbeitgebern.

Weitere Auftrittsmöglichkeiten für seine Performerinnen und Performer bietet Emanuel Rosenberg in seiner zweiten Compagnie, Progetto Brockenhaus; bei passenden Projekten mischt er die Ensembles. Und beim Tessiner Verein für Menschen mit Behinderungen, Giullari di Gulliver, können Interessierte von Teatro Danzabile Erfahrungen im Bereich des soziokulturellen Theaters sammeln und zusätzliche Auftrittskompetenzen gewinnen.

In den eigenen Produktionen von Teatro Danzabile erhalten alle Tanzschaffenden die gleiche Gage. Die Entlohnung ist in gemischten Compagnien bisweilen ein heikles Thema. Verdienen sie zu viel, riskierten etwa Bezügerinnen und Bezüger einer IV-Rente, dass ihre Ergänzungsleistungen gekürzt oder gestrichen werden. «Dabei sollten Tanzschaffende mit Beeinträchtigungen ihre Anerkennung auch in Form von Lohn erhalten, weil es Arbeit ist», betont Susanne Schneider.

Für einmal in der A-Liga

Obwohl seine Compagnie schon seit über zehn Jahren auch mit professionell ausgebildeten Tanzschaffenden arbeitet, empfindet Emanuel Rosenberg das Bühnenlabor an der ZHdK in vielerlei Hinsicht als ein Privileg, ist es doch ein Projekt, für das er keine Gelder suchen musste, und mit optimalen Probebedingungen.

Beim Bühnenlabor habe er zudem die Zeit, auszuprobieren. «Und mit jungen Studierenden zusammenzuarbeiten ist anders als mit erwachsenen, erfahrenen Profis. Sie sind sehr ehrgeizig, neugierig. Diese Möglichkeit der künstlerischen Zusammenarbeit bietet sich unseren Performerinnen und Performern mit Beeinträchtigungen sonst kaum.» Das sei eine Bereicherung. «Hier atmen wir frische Luft. Wir sehen, wo andere stehen, und was angehende Tänzerinnen und Tänzer heutzutage in der Ausbildung lernen.»

Entscheidend ist für Teatro Danzabile auch die Sichtbarkeit, die es dabei im eigenen Kanton erhält. «Wir spielen für einmal in der A-Liga», sagt Emanuel Rosenberg. «Im Tessin sind wir Pioniere, wir erfahren wenig Anerkennung. ‚Die machen etwas für Behinderte’, heisst es oft.» Und er ergänzt: «Zeigen wir da ein Projekt, das wir mit professionellen jungen Tänzerinnen und Tänzern in einer institutionellen Ausbildungsstätte in Zürich umgesetzt haben, und das durch die Schweiz tourt, hilft es uns als Compagnie und als Artisten auf kantonaler Ebene.»

Mehr Sichtbarkeit und neue Vorbilder

Wie die beiden kurzen Produktionen aus den Bühnenlabors 2017 wird auch die diesjährige Choreografie aus dem Labor der ZHdK schweizweite Sichtbarkeit erhalten: über das inklusive Netzwerkprojekt IntegrART vom Migros-Kulturprozent, konkret über seine vier Partnerfestivals, die die Produktion zeigen werden. Dazu gehören BewegGrund. Das Festival in Bern und das ORME Festival in Lugano sowie das Wildwuchs Festival in Basel und Out of the Box – Biennale des Arts inclusivs in Genf.

IntegrART ermöglicht den Partnerfestivals finanziell, international bedeutende gemischte Ensembles aus Tanzschaffenden mit und ohne Behinderungen zu präsentieren. Das Netzwerk sensibilisiert das Publikum für das Thema Inklusion im Tanz und trägt zu einer breiteren Wahrnehmung von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderungen bei. Damit schaffen IntegrART und seine Partnerfestivals Vorbilder für Tanzschaffende mit Beeinträchtigungen. Diese fehlen – so wie es generell wenig Performerinnen und Performer mit Behinderungen gibt: Für den Kick-off-Workshop zum diesjährigen Bühnenlabor musste Emanuel Rosenberg über sein breites Netzwerk intensiv nach Teilnehmenden suchen. 

Auch im Ausland absolviert die Mehrheit der Tanzschaffenden mit Behinderungen keine Ausbildung. Das Learning by Doing in Workshops und in Tanzproduktionen mit professionellen Rahmenbedingungen sei für die meisten noch immer der übliche Weg zur Professionalisierung, sagt Susanne Schneider. «Es fehlen eigene Rollenmodelle. Diese müssen wir gemeinsam schaffen, damit Menschen mit Behinderungen auf die Idee kommen zu tanzen.»

Erkenntnisse aus den Bühnenlabors wirken in die Hochschulen

Dazu gehöre auch, bei ausreichender Begabung, den Zugang zu einer institutionalisierten Ausbildung für Interessierte mit Behinderungen zu haben. An der ZHdK und der Accademia Teatro Dimitri werden erste Schritte in diese Richtung sichtbar. Die Erkenntnisse aus den Bühnenlabors von 2017 in Zürich und in Verscio flossen in das Forschungsprojekt der ZHdK und der SUPSI «DisAbility on Stage» ein, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde. Das im März 2019 abgeschlossene dreijährige Forschungsprojekt möchte nach eigenen Angaben «einen Diskurs um Behinderung an den Kunsthochschulen und Universitäten der Schweiz» initiieren.

In der Praxis heisst dies, dass die ZHdK das gemischte Bühnenlabor ins Curriculum der Bachelor-Studierenden aufgenommen hat und alle zwei Jahre durchführen wird. Das Labor 2019 unter der Leitung von Emanuel Rosenberg ist denn auch die erste Umsetzung. Im Tessin arbeiten die Accademia Teatro Dimitri und Teatro Danzabile seit kurzem mit dem Kanton an einer staatlich finanzierten und anerkannten, gemischten Aus- beziehungsweise Weiterbildung. «Für Performerinnen und Performer mit Beeinträchtigungen soll es eine Berufsausbildung sein, wie man Kellnerin oder Masseur wird, nur eben mit Ziel Bühnendarstellerin oder Bühnendarsteller», erläutert Emanuel Rosenberg.

Für die Studierenden ohne Behinderungen sei es eine Weiterbildung, zum Beispiel für jene, die in einer Behinderteninstitution schöpferisch arbeiten möchten. «Sie werden dann nicht nur ‚ein bisschen Theater spielen‘ mit Menschen mit Beeinträchtigungen, weil sie ein Handwerk erlernt haben: künstlerisch in der Inklusion zu arbeiten».

Fehlendes Wissen hemmt die Entwicklung

Was aber, wenn Menschen mit Behinderungen nach der zweijährigen, teilweise berufsbegleitenden Ausbildung dereinst keine Anstellung finden? «Tänzerin» oder «Bühnendarsteller» gelten schon für Menschen ohne Beeinträchtigungen als unsichere Berufe. Weder Susanne Schneider noch Emanuel Rosenberg glauben an einen grossen Ansturm von Interessierten mit Behinderungen. «Möchte eine talentierte Person mit Behinderung aber eine künstlerische Ausbildung machen, soll dies möglich sein, ohne dass sie die halbe Welt nach einer Schule absuchen muss, die bereit ist, sie aufzunehmen», sagt Susanne Schneider. 

Während Studierende daran seien, ihre Berührungsängste abzubauen, stellt sie auf Seiten der Entscheidungsträger Wissenslücken fest. «Vielfach ist noch nicht angekommen, dass es gemischte Produktionen mit Tanzschaffenden mit und ohne Behinderungen auf professionellem Niveau gibt.» Ändere sich dies, werde es auch mehr künstlerische Kooperationen und mehr Arbeitsangebote geben.

Die Bühne als ein mögliches Ziel

Für Emanuel Rosenberg ist die Bühne nur eines von mehreren möglichen Zielen der Ausbildung. Absolventinnen und Absolventen können beispielsweise auch selber unterrichten oder assistieren. «Es geht um Selbstbestimmung und um selbstverständliche Inklusion in Ausbildungen.» Künstlerisches Schaffen erlaube es Menschen mit Beeinträchtigungen, Selbstsicherheit zu gewinnen und selbständiger zu werden. Das meldeten ihm Arbeitgeber von Mitgliedern seiner Compagnie regelmässig.

Es hat sich etwas bewegt in den letzten Jahren, sind sich beide Pioniere einig. «Es braucht diese Vorläufer, damit Talente mit Behinderungen dereinst überhaupt zu einer Aufnahmeprüfung zugelassen werden», bringt es Emanuel Rosenberg auf den Punkt.

Esther Kunz weiss nicht, ob sie eine formalisierte Tanzausbildung machen würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte. Ohne Zögern kann sie hingegen benennen, was sich für sie in den sieben Jahren geändert hat, seit sie im professionellen Umfeld von BewegGrund tänzerisch tätig ist. «Mein Körper ist stärker geworden, ich habe mehr Gleichgewicht und vieles gelernt. Zum Beispiel habe ich Übungen für die Bauchmuskeln von meinem Duo-Partner Kilian abgeschaut. Jetzt mache ich sie auch. Ich bin allgemein sicherer geworden, Unerwartetes bringt mich nicht mehr so sehr aus dem Konzept.»

Joëlle Petrini wurde für das Bühnenlabor an der ZHdK ausgewählt und wird mit der Gruppenchoreografie im Frühjahr 2019 an den vier IntegrART-Partnerfestivals auftreten als eine von 14 Tänzerinnen und Tänzern mit und ohne Beeinträchtigungen. Oder einfach: als eine von 14 Tanzschaffenden.

Tanzhaus Zürich: neue feste zeitgenössische Compagnie

Der lokalen freien Tanzszene möchte das Tanzhaus Zürich nachhaltige Arbeitsmöglichkeiten und eine Produktionsstätte bieten. Letztere soll die neue zeitgenössische Compagnie im Ersatzneubau finden, den das Tanzhaus im September 2019 bezieht – und diesen mit ihrer ersten Produktion eröffnen. An einem Audition-Workshop Ende März wurden drei professionelle Tänzerinnen und zwei Tänzer ausgesucht; unter den 27 eingeladenen Bewerberinnen und Bewerbern waren keine Tanzschaffenden mit Behinderungen. Die Compagnie soll aber künftig auf sieben Tanzschaffende ausgeweitet werden und dann möglichst generationenübergreifend und inklusiv sein. Die Struktur ist offen für professionelle Performerinnen oder Performer mit Behinderungen. 

Denkbar ist für die Leiterin des Tanzhauses Catja Loepfe auch die Zusammenarbeit mit einer Choreografin oder einem Choreografen mit Behinderung. Neben einer jährlichen grossen Bühnenproduktion mit Strahlkraft soll die Compagnie auch in die Gesellschaft wirken: möglichst inklusive Vermittlungsformate erarbeiten, Workshops geben – unter anderem in DanceAbility – sowie weitere neue Felder für den Tanz öffnen, zum Beispiel im Bereich Gesundheit. Inhaltliche Vorgaben wird das Tanzhaus nicht machen. Vielmehr sollen die Mitglieder der Compagnie in einer kollektiven Struktur die kreative Richtung bestimmen.

Ab September 2019 führt das Tanzhaus zudem die bisher monatlichen DanceAbility-Workshops für Tanzinteressierte mit und ohne Behinderungen neu wöchentlich durch. Ein Bühnenprojekt aus diesen Workshops wird derzeit geprüft.

Paola Pitton
März 2019

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