Inklusionsberatung für Museen

«Damit holten wir unsere Leute mit ins Boot»

Am Anfang war die Beratung. Für ihre ersten Schritte in Richtung Inklusion setzten Augusta Raurica in Augst (BL) und das Museum Tinguely in Basel auf Fachleute aus Behindertenorganisationen. Diese führten die Museen auf unterschiedliche, aber gleichermassen nachhaltig inklusive Pfade. Ein Hauptkriterium dabei: Mit den Expertinnen und Experten in eigener Sache gelang es den beiden Kulturinstitutionen, ihre Mitarbeitenden für die Teilhabe zu gewinnen.

Zwei grundverschiedene Häuser, ein einheitlich positives Fazit. So lassen sich die Erfahrungen von Augusta Raurica in Augst (BL) und dem Museum Tinguely in Basel mit Inklusionsberatungen auf den Punkt bringen. Zwei entscheidende Gemeinsamkeiten verbinden die Museen: Beide zogen Fachpersonen bei, bevor sie die inklusiven Massnahmen festlegten. Und die jeweilige Museumsleitung steht hinter der Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderungen. So diskutierte der Leiter von Augusta Raurica, Dani Suter, am Kick-off-Workshop der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis im Herbst 2017 mit seinen Bereichsverantwortlichen über mögliche inklusive Ansätze anhand der bestehenden Strukturen. Während das Kernteam eine Liste mit möglichen inklusiven Massnahmen erarbeitete, schuf Dani Suter Anfang 2018 die Funktion einer Projektleiterin Inklusion und beauftragte sie damit, die Umsetzung zu koordinieren.

Mit einem Arbeitspensum von 20 Prozent wurde die Archäologin Adrienne Cornut beauftragt, die auch als Vermittlerin in Augusta Raurica arbeitet. Als erstes bündelte sie die Ideen nach Rücksprache mit den Verantwortlichen in einem Manual zur Qualitätssicherung, etappiert auf drei Jahre von 2018 bis 2020. Die geplanten inklusiven Massnahmen gehören zu den Jahreszielen der Mitarbeitenden.  

Auf drei Begehungen das eigene Haus dreimal neu erfahren

Im Museum Tinguely in Basel können Vize-Direktor Andres Pardey und Kunstvermittlerin Lilian Steinle, die für das Projekt Inklusion verantwortlich sind, auf die Unterstützung von Direktor Roland Wetzel zählen. Nach Gesprächen mit der Fachstelle Kultur inklusiv entschied sich das Museum 2017 für drei Begehungen mit Fachleuten in rascher Abfolge, um sich einen Überblick zu verschaffen, wo das Haus mit den 50 Maschinenskulpturen des Künstlers Jean Tinguely in seiner Zugänglichkeit steht.

Nach diesen Erstberatungen sollten die geplanten inklusiven Massnahmen zudem so aufeinander abgestimmt werden können, dass sie verschiedenen Ansprüchen genügen und beispielsweise eine bauliche Verbesserung für blinde Besucherinnen und Besucher nicht etwa zur neuen Barriere für Menschen im Rollstuhl wird.

«Die Expertinnen und Experten nahmen uns die Angst, schon mehr wissen zu müssen. Ihre Unterstützung war fantastisch.»

Lilian Steinle, Mitverantwortliche für das Projekt Inklusion im Museum Tinguely​

Drei Begehungen zwischen September und Dezember 2017. Dreimal laufen Lilian Steinle und Andres Pardey den vierstöckigen Museumsbau von Mario Botta und die Zugangswege ab, angefangen bei der Bushaltestelle oder beim Behindertenparkplatz. Dreimal entdecken sie ihr Museum neu: Ein erstes Mal mit den beiden Experten – einer davon im Rollstuhl – der Fachstelle Hindernisfreies Bauen von Pro Infirmis Basel-Stadt. Zwei Monate später mit einem gehörlosen Spezialisten der Fachstelle Information, Beratung und Dienste für Gehörlose und Hörbehinderte Basel. Und zuletzt in einer Begehung mit einer Sachverständigen der Sehbehinderten-Hilfe Basel.

Die Begehungen haben Lilian Steinle geprägt. Sie ist voll des Lobs, nicht nur für das grosse Engagement, das die vier Fachpersonen bei den zwei- bis dreistündigen Begehungen zeigten. «Wir waren mit dem Thema Inklusion nicht vertraut. Die Fachleute nahmen uns die Angst, schon mehr wissen zu müssen. Ihre Unterstützung war fantastisch.» Mit einigen Vermutungen im Hinterkopf, was alles ein Hindernis darstellen könnte, kamen die beiden Museumsmitarbeitenden an die Begehungen, in deren Verlauf sich die eigentlichen Fragen ergaben.

Den betroffenen Experten ist Lilian Steinle dankbar, dass sie die vielen «naiven» Vorstellungen nicht negativ bewerteten, sondern bereitwillig und nachvollziehbar justierten. So wurden die Begehungen zur Chance, ins Thema einzutauchen, und zur bereichernden Erfahrung. «Inklusion ist ein lebenslanger Prozess», ist sich Lilian Steinle bewusst. Wie viel das Museum indes schon bei den ersten Begehungen gelernt habe, sei faszinierend. Und sie ergänzt: «Die Begehungen haben das Feuer in uns entfacht.»

Aus den Erstberatungen resultieren vier inklusive Jahresschwerpunkte

Abschliessend händigten die Fachleute Merkblätter und Unterlagen für einen möglichst hindernisfreien Zugang aus, und mit den eigenen Notizen aus den Begehungen erstellten die zwei Inklusionszuständigen des Museum Tinguely Massnahmenlisten: «Hängehöhe der Texte», «Lichtsituation», «Treppengeländer» oder «Geräuschkulisse» und einiges mehr steht da, dazu in Stichworten, welche Anpassungen folgen sollten. Demotiviert hat dies die beiden nicht. Im Gegenteil. «Jetzt haben wir den Mumm – und die Handhabe. Wir wissen, was zu tun ist, auch, was wir gleich und ohne grossen Aufwand verbessern können.» Was das Museum schon lange umsetzen wollte, erhielt durch die ersten direkten Kontakte mit den Expertinnen und Experten eine neue Wichtigkeit.

Als Folge entschied sich das Museum Tinguely, jährliche inklusive Schwerpunkte auf einzelne Behinderungsformen zu setzen, um sich nicht zu verzetteln: 2018 galten sie gehörlosen und hörbehinderten Menschen, 2019 fokussiert das Museum auf blinde und sehbehinderte Gäste, für die nächsten beiden Jahren plant es spezifische Angebote für Menschen mit Mobilitäts- und altersbedingen Einschränkungen sowie für Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen.

Eine Begehung als Grundlage für einen inklusiven Stadtplan

Ebenso eingenommen von den Erstberatungen ist Adrienne Cornut. Auch sie wandte sich für die erste Begehung in Augusta Raurica an einen Spezialisten für hindernisfreies Bauen. Das weitläufige Gelände mit 30 Monumenten – allen voran das römische Theater – kennzeichnet die einstige römische Koloniestadt mindestens ebenso sehr wie das Museum mit Römerhaus und Silberschatz.

Wenig erstaunlich also, dass ein neuer Stadtplan mit den Angaben, welche Denkmäler rollstuhlgängig sind und welche nicht, zu den ersten Zielvorgaben der Projektleiterin Inklusion gehörte. Als Grundlage dafür überprüfte Adrienne Cornut mit einem Experten im Rollstuhl der Behindertenorganisation Procap das Gelände – im Wissen, dass wegen des Ruinenschutzes nicht alle Monumente zugänglich gemacht werden können. Dabei erfuhr sie beispielsweise, welche Denkmäler dank einer zusätzlichen Rampe einfach erschliessbar sind oder wie gross der Widerstand einer Türe höchstens sein darf, damit eine im Rollstuhl sitzende Person sie zu öffnen vermag.

Das Ergebnis: Der neue Stadtplan von Augusta Raurica führt nicht nur diejenigen der 30 frei zugänglichen Monumente auf, die im Rollstuhl befahrbar sind, sondern auch die relevanten Steigungen und Neigungen auf den Strecken zwischen den Denkmälern. Bevor der Plan im Sommer 2019 auf der Webseite von Augusta Raurica aufgeschaltet und bei den Parkplätzen aufliegen wird, überprüft ihn eine Fachperson im Rollstuhl.

Vorstellungen mit der Wirklichkeit abgleichen

Für die zweite Begehung anerbot sich der Experte gleich selber. Ein Fachmann aus der Sektion Nordwestschweiz des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands (SBV) meldete sich im Frühling 2018 bei Adrienne Cornut. Er hatte erfahren, dass Augusta Raurica neu das Label «Kultur inklusiv» trägt, und wollte einerseits wissen, welches Angebot das Museum für Menschen mit Sehbehinderungen bereits hat, und andererseits informieren, was die Standards aus Sicht des SBV sind. «Als ich das hörte, bin ich etwas erschrocken», räumt Adrienne Cornut ein. «Doch das Gespräch war toll, der Experte ausgesprochen nett. Ich konnte meine Fragen stellen und meine Vorstellungen mit der Wirklichkeit abgleichen.»

Zum Beispiel die Vorstellung, dass blinde und sehbehinderte Gäste nur in Begleitung nach Augusta Raurica kommen – ist der Fussweg vom Bahnhof her doch schon für Sehende kompliziert – und somit die Begleitperson die Inhalte der Infotafeln vorlesen könne. Als ihr der blinde Experte recht gab, aber darauf hinwies, dass blinde Menschen sich ihr Wissen vielleicht lieber selber aneignen, konstatierte Adrienne Cornut: «Das ist logisch. Und nur das ist inklusiv.» Augusta Raurica prüft, ein Heft mit den wichtigsten Informationen in Brailleschrift zu erstellen und im Museum aufzulegen, das diese Selbständigkeit ermöglichen würde. Damit war auch Adrienne Cornuts Frage beantwortet, ob die Museumstexte in Brailleschrift überhaupt noch zeitgemäss sind mit den neuen technischen Möglichkeiten.

Das traditionelle Römerfest im August, das jeweils 20'000 Gäste anlockt, nutzte sie 2018, um breiter abgestützte Rückmeldungen zu Wünschen und Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen zu erhalten. Rund 40 blinde und sehbehinderte Interessierte aus dem Umfeld des SBV und Gäste mit Mobilitätsbehinderungen und teilweise mit kognitiven Beeinträchtigungen des Wohn- und Bürozentrums für Körperbehinderte (WBZ) in Reinach (BL) besuchten mit ihren Begleitpersonen Workshops und weitere Aktivitäten kostenlos. Im Gegenzug berichteten sie Adrienne Cornut, wie sie den Tag erlebt hatten und machten Verbesserungsvorschläge.

Expertinnen und Experten in eigener Sache mit kognitiven Beeinträchtigungen aus dem WBZ testeten vor Ort auch den Entwurf einer Broschüre in Leichter Sprache über das Römerhaus, den eine Kommunikationsmitarbeiterin von Augusta Raurica ausgehend von einer ähnlichen Broschüre für Kinder erarbeitet hat. Ihre Rückmeldungen sollen in das Begleitheft in Leichter Sprache einfliessen, das nach der Umgestaltung des Römerhauses 2019 erstellt wird.

Die ersten Beratungen bringen die Inklusion ins Rollen

Auch das Museum Tinguely zielt auf eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten in eigener Sache. Als eine der ersten Zugangshilfen lancierte das Museum in seinem Schwerpunkt für gehörlose und hörbehinderte Menschen 2018 Museumsführungen in Gebärdensprache. «Das lag auf der Hand, weil wir Führungen in verschiedenen Sprachen anbieten, und Gebärdensprache auch eine Sprache ist», sagt Lilian Steinle. Klar war für sie, dass nur eine betroffene Fachperson, die Gebärdensprache beherrscht, diese Führungen anbieten sollte. «Gebärdensprache ist ihr Alltag, das macht sie zur unbestrittenen Expertin.»

Hatte das Museum für die Begehungen noch auf die Kontakte der Fachstelle Kultur inklusiv zurückgegriffen, fanden sich die Fachpersonen für die Jahresschwerpunkte nun beinahe von selbst. «Als das Thema gesetzt war und wir das Label ,Kultur inklusiv’ hatten, flog uns vieles zu.» Über eine Bekannte kam Lilian Steinle auf eine Gebärdensprachdolmetscherin, die ihr den Kontakt zu jenen Fachleuten vermittelte, mit denen das Museum schliesslich vier Videos in Gebärdensprache realisierte, die auf seiner Webseite zu sehen sind.

Die Community der kulturaffinen gehörlosen Interessierten ist gut vernetzt, hat Lilian Steinle festgestellt. Die selbständig erwerbende hörbehinderte Expertin Lua Leirner aus Basel, die das Museum Tinguely im Frühjahr 2018 für monatliche Führungen in Gebärdensprache verpflichtete, wurde ihr gleich mehrfach empfohlen.

Verbindliche Sensibilisierungskurse für alle tragen Früchte

Am Anfang der Jahresschwerpunkte 2018 und 2019 standen im Museum Tinguely jedoch keine neuen inklusiven Angebote für betroffene Besucherinnen und Besucher, sondern wiederum eine Beratung: ein Sensibilisierungskurs für alle Mitarbeitenden –  vom Direktor über die Kuratorinnen und Kuratoren bis hin zu den Angestellten von Bistro, Besucherbetreuung und Shop. Die erste Schulung fand im Februar 2018 in Gruppen von 15 Personen statt, die Teilnahme war verpflichtend. Gleich dieser erste Kurs kam einer Wasserscheide gleich, die das Museumsteam in seiner inklusiven Haltung in ein Davor und ein Danach trennte.

Anders als bei seiner Begehung im November 2017 erzählte der gehörlose Spezialist der Fachstelle Information, Beratung und Dienste für Gehörlose und Hörbehinderte Basel an der Schulung auch von sich. Etwa davon, wie er als Kind vor dem Spiegel übte Wörter auszusprechen, ohne das Ergebnis überprüfen zu können. Danach versuchten die Museumsmitarbeitenden selber, anderen von den Lippen abzulesen.

Die Perspektive des Anderen einzunehmen, ist ein wichtiger Bestandteil der Sensibilisierungskurse: Im darauffolgenden Jahr sensibilisierte ein Mitarbeiter der Sehbehinderten-Hilfe Basel für die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen, indem er die Mitarbeitenden – ausgestattet mit einer Dunkelbrille – ihr Museum als blinde Besucherin oder blinder Besucher neu erleben liess. Diese Perspektivenwechsel machen auch die Leistung nachvollziehbar, die Menschen mit einer Behinderung tagtäglich vollbringen.

Im Austausch mit den beiden Fachpersonen konnten die Museumsmitarbeitenden aber auch ihre Befürchtungen ablegen, Besucherinnen und Besuchern mit Behinderungen nicht gerecht zu werden, sie zu unterschätzen, Fehler zu machen. Nach den zweistündigen Kursen fanden sie sich gerüstet mit Sachwissen, das sie in gemeinsamen Übungen verankert hatten. Der Perspektivenwechsel und die Beratung habe die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin bestärkt, ihr Möglichstes beizutragen, damit Inklusion im Museum gelingt. «Mit den Sensibilisierungskursen haben wir unsere Leute ins Boot geholt», sagt Lilian Steinle. «Die Kurse eröffneten uns neue Gedankenwelten; wir machen uns jetzt Überlegungen, auf die wir vorher nicht gekommen wären.» 

Das neue selbstverständliche Engagement bezeugt ein blinder Experte. Vom Museum Tinguely beauftragt, Texte für die Audiodeskriptionen ausgewählter Kunstwerke zu verfassen, war dieser vor der Schulung, die für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher sensibilisieren sollte, im Museum. Bei einem Arbeitsbesuch nach dem Kurs zeigte er sich beeindruckt. Techniker, Besucherbetreuende, Shop- und Bistro-Angestellte hätten alle am gleichen Strang gezogen, er habe sich ausgesprochen willkommen gefühlt, sagte er Lilian Steinle.

Gewappnet für verschiedene Anspruchsgruppen

Fast deckungsgleich beschreibt Adrienne Cornut die Wirkung des Sensibilisierungs-Workshops auf die Mitarbeitenden von Augusta Raurica. Die Schulung hat auch hier gemäss Zielvorgaben Vorrang und wird etappiert umgesetzt. 2018 nahmen die Mitarbeitenden mit Kundenkontakt daran teil: die Zuständigen für den Gästeservice und die Leiterinnen und Leiter der über 1'300 jährlichen Vermittlungsanlässe.

Adrienne Cornut wollte dabei einen breiten Einblick in die verschiedenen Anspruchsgruppen ermöglichen. Das sei heute besonders wichtig, weil seit einigen Jahren immer mehr gemischte Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen Augusta Raurica zusammen besuchen. Die Vermittlerin denkt dabei etwa an Integrationsklassen mit ein, zwei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen, deren Lehrpersonen bei der Anmeldung nicht auf besondere Bedürfnisse hinweisen. «Die Leiterin oder der Leiter des Workshops muss unmittelbar reagieren. Deshalb ist es für sie wichtig zu wissen, wie sie professionell handeln.»

Die Projektleiterin Inklusion besprach Gegebenheiten und Schulungsbedürfnisse mit dem Verein Sensability – Experten für Inklusion, der ausschliesslich betroffene Fachleute mandatiert und in der ganzen Deutschschweiz berät. Aufgeteilt in zwei Gruppen erlebten die 20 Mitarbeitenden mit einer blinden Fachfrau, einer hörbehinderten Expertin und einer Spezialistin im Rollstuhl jeweils eine Stunde lang den Perspektivenwechsel. Die Ungeübten waren verblüfft, wie weit sich die Distanzen von einem Monument zum nächsten anfühlen als «blinde Besucherin» oder «blinder Besucher». Und was eine Steigung von fünf Prozent im manuellen Rollstuhl konkret heisst. Am Nachmittag informierte eine Expertin mit einer psychischen Krankheit, wie sie den Alltag lebt.

Die massgeschneiderte Schulung in kleinen Gruppen ermöglichte einen intimen Austausch. «Als das Team ,aufgetaut' war, kamen sehr viele Fragen an die Expertinnen. Es gab keine Tabu-Themen. Die Fachfrauen waren toll. Sie liessen uns an ihrem Leben teilhaben und gingen locker mit unseren ‚Fehlern’ um.» Daraus ergaben sich spannende Gespräche, bei denen Adrienne Cornut die Expertinnen auch fragen konnte, was für sie eine gute Vermittlung ausmache, warum eine Ausstellung als toll in Erinnerung bleibe, oder auch, was ihre Wünsche an Museen seien.

«Ein geschulter Experte kann mir unmittelbar sagen, ob eine geplante Massnahme funktionieren wird. Das erspart mir aufwendige Recherchen, die möglicherweise keine eindeutigen Resultate bringen.»

Adrienne Cornut, Projektleiterin Inklusion in Augusta Raurica​

Beraterinnen und Berater als Multiplikatoren

Die Fachpersonen waren für die beiden Kulturinstitutionen indes nicht nur als sensibilisierende Wissensvermittler und Beratende entscheidend. Bis heute sind sie wichtige Multiplikatoren, die die inklusiven Massnahmen in ihrer jeweiligen Community bekannt machen. Das zeigte sich am «Inklusionstag im Zeichen der Zeichen» im Museum Tinguely im Oktober 2018, der unter anderem Führungen und Crashkurse in Gebärdensprache anbot: Am Anlass nahmen auch rund 70 gehörlose und hörbehinderte Interessierte teil. Betroffene Besucherinnen und Besucher sowie Fachpersonen hätten von einem selten gesehenen Auflauf gesprochen, erinnert sich Lilian Steinle.

Möglich wurde der Erfolg, weil es allen Beteiligten ein Anliegen war, dass der Tag gelingt. «Wir haben dabei sehr vom Netzwerk der Gehörlosen-Community profitiert.» Die beigezogenen Spezialisten, weitere Expertinnen und Experten sowie Betroffene machten dafür Werbung; die Fachstelle Information, Beratung und Dienste für Gehörlose und Hörbehinderte Basel schaltete gar zusätzlich ein eigenes Video auf ihrer Webseite auf.

Für den Internationalen Museumstag im Mai 2019 erarbeite Augusta Raurica, beraten durch den blinden Experten des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, ein inklusives Angebot für seine blinden und sehbehinderten Gäste, dazu gehörten beispielsweise Erklärungen in Brailleschrift. Auch hier nutzte das Museum das spezifische Netzwerk – mit Erfolg: Unter den rund 450 Besuchenden waren an die 15 blinde und sehbehinderte Personen. Ein inklusives Angebot soll es auch nächstes Jahr geben.

Der blinde Fachmann habe sich auch bereit erklärt, die Webseite von Augusta Raurica zu testen, die 2020 neu gestaltet werden soll. «Ein geschulter Experte kann mir unmittelbar sagen, ob eine geplante Massnahme funktionieren wird. Das erspart mir aufwendige Recherchen, die möglicherweise keine eindeutigen Resultate bringen», sagt Adrienne Cornut. Auch die Fachpersonen aus dem WBZ und von Procap seien bereit, überarbeitete Hilfsmittel zu prüfen – sei es doch auch in ihrem Interesse, dass diese funktionieren. «Das ist für beide Seiten ein Gewinn, und es entstehen längerfristige Kontakte.»

Inklusive Angebote werden ausgebaut

Wiederaufnehmen wird das Museum Tinguely ein Angebot aus der Basler Museumsnacht 2019. Die Museumsnacht, an der sich die Museen der Stadt und aus der Umgebung beteiligen, markierte für das Museum Tinguely den Abschluss seines Jahresschwerpunkts für gehörlose und hörbehinderte Menschen. Dies feierte das Museum unter anderem mit drei Crashkursen in Gebärdensprache, die zwei betroffene Expertinnen und eine Dolmetscherin erteilten. Aufgrund der positiven Echos nicht nur von Seiten des Publikums, sondern auch von Sponsoren der Museumsnacht, die daran teilnahmen, steht jetzt schon fest, dass die Kurse an der Museumsnacht 2020 wiederholt werden, zusätzlich zu den Angeboten zum Jahresschwerpunkt für blinde und sehbehinderte Menschen.

Auf die 2018 erarbeiteten inklusiven Angebote will das Museum nicht verzichten, zumal sie «endlich die ihnen gebührende Selbstverständlichkeit erhalten haben», sagt Lilian Steinle. Steht eine Vernissage an, fragt sie nicht mehr nach, ob eine Gebärdensprachdolmetscherin bestellt werden darf. Das ist genauso klar wie die Tatsache, dass Sitzplätze in der Nähe der Dolmetscherin für gehörlose Besuchende reserviert sind.

Die inklusiven Zugangshilfen für gehörlose Interessierte werden mehr: Zu den vier Videos in Deutschschweizer Gebärdensprache, die seit Mitte 2018 auf der Webseite des Museum Tinguely über das Haus, den Künstler Jean Tinguely und drei seiner Werke informieren, werden 2019 Videos in internationaler Gebärdensprache hinzukommen.

Adrienne Cornut hat wiederum Interessierte mit kognitiven Beeinträchtigungen des WBZ ans Römerfest 2019 eingeladen. Rückmeldungen möchte sie auch nach Ende der Workshop-Saison im Oktober 2019 einholen und sehen, ob sich der Sensibilisierungs-Workshop auf Besucherzahlen oder Workshop-Buchungen ausgewirkt hat. Daneben setzt sie die geplanten und im Manual zur Qualitätssicherung festgehaltenen Massnahmen mit ihren Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen um. «Das Projekt Inklusion wird von allen getragen. Mit meinem 20-Prozent-Pensum kann ich nicht Berge versetzen. Aber wenn alle mitziehen, kommen wir vorwärts.»

Inklusionsberatungen in Augusta Raurica

Nach einem Input-Workshop mit der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis im September 2017 liess sich die Projektleiterin Inklusion von Augusta Raurica 2018 von Experten der Behindertenorganisation Procap und des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands beraten. Beide Beratungen waren kostenlos. Ebenfalls unentgeltlich prüften Expertinnen und Experten in eigener Sache mit kognitiven Beeinträchtigungen aus dem Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte (WBZ) in Reinach (BL) eine Testfassung der neuen Broschüre zum Römerhaus in Leichter Sprache.

20 Mitarbeitende mit Besucherkontakt nahmen 2018 an einem Workshop des Vereins Sensability – Experten für Inklusion teil. Vier betroffene Expertinnen sensibilisierten sie für die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen, mit psychischen Beeinträchtigungen, von blinden und sehbehinderten Personen sowie von gehörlosen und hörbehinderten Menschen. Unter anderem übten die Teilnehmenden den Perspektivenwechsel: die Selbsterfahrungen mit Einschränkungen, mit denen Menschen mit Behinderungen im Alltag leben. Sensability bietet individuelle Schulungen und Beratungen an, diese sind kostenpflichtig.

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Inklusionsberatungen im Museum Tinguely

Nach einem Beratungsgespräch mit der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis liessen sich die beiden Inklusionszuständigen des Museum Tinguely in drei Begehungen beraten: von Expertinnen und Experten der Fachstelle Hindernisfreies Bauen von Pro Infirmis Basel-Stadtder Fachstelle Information, Beratung und Dienste für Gehörlose und Hörbehinderte Basel und von der Sehbehinderten-Hilfe Basel. Diese Erstberatungen erfolgten kostenlos.

2018 führte ein gehörloser Fachmann der Fachstelle Information, Beratung und Dienste für Gehörlose und Hörbehinderte Basel einen rund zweistündigen Sensibilisierungskurs für alle Museumsmitarbeitenden durch, aufgeteilt in Gruppen von 10 bis 15 Personen. 2019 sensibilisierte eine Fachperson der Sehbehinderten-Hilfe Basel für die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen. In den beiden Schulungen übten die Teilnehmenden unter anderem den Perspektivenwechsel: die Selbsterfahrungen mit Einschränkungen, mit denen Menschen mit Behinderungen im Alltag leben. Die je vier Durchführungen 2018 und 2019 waren kostenpflichtig.

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Paola Pitton
Juni 2019

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